Zahlung einer Entschädigung
Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderungen - Diskriminierung wegen des Alters?
Bundesarbeitsgericht ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union
Die Parteien streiten über die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG*. Die Beklagte ist ein Assistenzdienst. Sie bietet Menschen mit Behinderungen Beratung, Unterstützung sowie Assistenzleistungen in verschiedenen Bereichen des Lebens (sog. Persönliche Assistenz) an.
Assistenzleistungen nach § 78 SGB IX werden für Menschen mit Behinderungen zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen. Assistenzleistungen, die oft von mehreren Personen in Schichten, teilweise rund um die Uhr, geleistet werden, können von einem Assistenz- oder Pflegedienst erbracht oder durch die leistungsberechtigte assistenznehmende Person - im sog. Arbeitgebermodell - selbst organisiert werden. Die Kosten werden in beiden Fällen vom zuständigen öffentlich-rechtlichen Leistungs-/Kostenträger getragen.
Ausweislich des von der Beklagten im Juli 2018 veröffentlichten Stellenangebots suchte eine 28jährige Studentin "weibliche Assistentinnen" in allen Lebensbereichen des Alltags, die "am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt sein" sollten. Die im März 1968 geborene Klägerin bewarb sich am 5. August 2018 ohne Erfolg auf diese Stellenausschreibung.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Beklagte auf Zahlung einer Entschädigung in Anspruch genommen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe sie im Bewerbungsverfahren entgegen den Vorgaben des AGG wegen ihres Alters benachteiligt und sei ihr deshalb nach § 15 Abs. 2 AGG zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet. Die ausdrücklich an Assistentinnen im Alter "zwischen 18 und 30" Jahren gerichtete Stellenausschreibung der Beklagten begründe die Vermutung, dass sie, die Klägerin bei der Stellenbesetzung wegen ihres – höheren - Alters nicht berücksichtigt und damit wegen ihres Alters diskriminiert worden sei.
Die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters sei bei Leistungen der Assistenz nach § 78 SGB IX unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, die Ungleichbehandlung wegen des Alters sei nach dem AGG gerechtfertigt. Bei der Beurteilung einer etwaigen Rechtfertigung seien nicht nur die Bestimmungen des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), sondern auch zu berücksichtigen, dass die eine persönliche Assistenz in Anspruch nehmenden Leistungsberechtigten nach § 8 Abs. 1 SGB IX** ein Wunsch- und Wahlrecht auch im Hinblick auf das Alter der Assistenten/innen hätten. Nur so sei eine selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu erreichen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage vollständig abgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Zahlung einer Entschädigung weiter. Die Beklagte begehrt die Zurückweisung der Revision.
Da die Entscheidung des Rechtsstreits davon abhängt, ob die durch die Stellenausschreibung bewirkte unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters nach den Bestimmungen des AGG gerechtfertigt ist und sich im Hinblick auf die Auslegung dieser Bestimmungen in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG Fragen der Auslegung von Unionsrecht stellen, ersucht der Achte Senat des Bundesarbeitsgerichts den Gerichtshof der Europäischen Union, die folgende Frage zu beantworten:
Können Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 und/oder Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG – im Licht der Vorgaben der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) sowie im Licht von Art. 19 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) - dahin ausgelegt werden, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt werden kann?
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 24. Februar 2022 - 8 AZR 208/21 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 27. Mai 2020 - 11 Sa 284/19 –
*§ 15 AGG
(1) Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ist der Arbeitgeber verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. ...
(2) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
**§ 8 Abs. 1 SGB IX
Bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe wird berechtigten Wünschen des Leistungsberechtigten entsprochen. Dabei wird auch auf die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse der Leistungsberechtigten Rücksicht genommen; ...
(Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts vom 24. Februar 2022: ra)
eingetragen: 06.04.22
Newsletterlauf: 09.06.22
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