Abschuss bedrohlicher Flugzeuge
Deutsche Bundesregierung: Reaktion auf ein entführtes Flugzeug hängt von Einzelfall ab
Haltung der Bundesregierung zum Abschuss bedrohlicher Flugzeuge ("Renegade Aircraft"), darunter gekaperter Passagiermaschinen, und zu Medienberichten, wonach eine Auswahl hierzu bereiter Piloten durch den Bundesminister der Verteidigung erfolgt sein soll
(01.02.08) - Ihre Haltung zum Abschuss bedrohlicher Flugzeuge macht die Bundesregierung in ihrer Antwort (16/7738) auf eine Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen (16/7464) deutlich. Demnach könne nur im jeweiligen Einzelfall unter Beachtung aller bekannten Umstände entschieden werden, wie auf ein entführtes Flugzeug zu reagieren sei.
Ein Urteil vom Bundesverfassungsgericht zu diesem Thema habe zwar die gesetzliche Grundlage für den Abschuss eines Flugzeuges für nichtig erklärt, beziehe sich damit aber ausdrücklich nicht auf die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens gerichtet seien, so die Bundesregierung. Die Grünen hatten nach der Haltung der Bundesregierung zum Abschuss bedrohlicher Flugzeuge, darunter gekaperter Passagiermaschinen gefragt.
Die Regierung hält einen Angriff durch ein Flugzeug für den Verteidigungsfall im Sinne des Grundgesetzes, wenn es sich um einen Angriff eines anderen Staates oder eines de facto Regimes handle. Dann sei der Einsatz der Streitkräfte gerechtfertigt. Dies gelte ebenso für eine internationale terroristische Aggression in einem Ausmaß, die das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta auslöse. Das Bundesministerium der Verteidigung habe keine Befragung von Piloten der Luftwaffe zu diesem Thema angeordnet und diese sei auch nicht durchgeführt worden, heißt es in der Antwort weiter.
Vorbemerkung der Fragesteller
Der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung, und der Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, haben sich in den vergangenen Wochen wiederholt zur Frage geäußert, wie mit der möglichen Bedrohung durch von Terroristen gekaperten Flugzeugen, insbesondere Passagiermaschinen umgegangen werden soll. Um der Gefahr eines gezielten Absturzes – ähnlich den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA – etwa auf Gebäude, Sportstadien oder Atomkraftwerke zu begegnen, wurde von den beiden Bundesministern verschiedentlich die Möglichkeit eingefordert, Flugzeuge abschießen lassen zu dürfen.
Bundesminister Dr. Franz Josef Jung behauptete, er habe die Bereitschaft zur Befolgung solcher Abschussbefehle schon vor bzw. anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 bei den in Frage kommenden Luftwaffenpiloten feststellen lassen (FOCUS vom 17. September 2007): "Ich habe zusammen mit der Luftwaffenführung festgelegt, dass nur diejenigen Piloten fliegen sollten, die … auch dazu bereit wären, diesen Befehl auszuführen." Ein in einer Luftverteidigungszentrale tätiger deutscher Offizier bekräftigte, in den Alarmrotten kämen nur solche Offiziere zum Einsatz, "die im Fall eines übergesetzlichen Notstandes zur hundertprozentigen Befehlsausübung bereit sind"; eine diesbezügliche "Befehlsverweigerung" sei aufgrund der Vorabsprachen deshalb "nicht vorstellbar" (Leipziger Volkszeitung vom 18. September 2007).
Schon im Frühjahr 2006 hatte Bundesminister Dr. Franz Josef Jung angekündigt: "Wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben der Bevölkerung besteht, würde ich aufgrund übergesetzlichen Notstandes den Befehl geben, das Flugzeug abzuschießen." (B. Z. vom 5. März 2006). Und am 5. April 2006 hatte Bundesminister Dr. Franz Josef Jung gegenüber dem "TAGESSPIEGEL" im gleichen Zusammenhang auf eigene Flugabwehrerfahrungen rekurriert:
"Es geht zunächst um Abdrängen und Niederbringen eines solchen Flugzeugs. Dafür trage ich die Verantwortung … Dann kommt der Warnschuss. Dann kommt die Frage der Bekämpfung. Ich respektiere selbstverständlich, was das Verfassungsgericht dazu gesagt hat. Eine ganz andere Frage ist aber: Wann haben wir es mit einem Fall der Nothilfe nach Artikel 35 des Grundgesetzes zu tun? Wann ist der Bündnisfall gegeben – ich erinnere daran, dass nach dem Anschlag vom 11. September 2001 die Nato den Bündnisfall ausgerufen hat. Und wann handelt es sich vielleicht schon um einen Verteidigungsfall? … Im Verteidigungsfall gelten andere Grundsätze. Ich war als Wehrdienstleistender bei der Flugabwehr. Da hätten wir im Verteidigungsfall nicht geprüft, ob an Bord eines Flugzeugs Unbeteiligte gewesen wären. Da gelten andere Kriterien." Der Deutsche Bundestag hatte 2005 ein Luftsicherheitsgesetz beschlossen, das in solchen Situationen eine unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt unter engsten Voraussetzungen zuließ. Das Bundesverfassungsgericht beanstandete in seiner Entscheidung vom 15. Februar 2006, dass damit auch der Abschuss eines vollbesetzten Passagierflugzeugs möglich werde. Das Grundgesetz erlaube einen Einsatz mit militärischen Mitteln unter Amtshilfegesichtspunkten nicht. Darüber hinaus verbiete das Recht auf Leben nach Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Artikels 1 Abs. 1 GG einen Abschuss, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeuges betroffen werden.
1. Hält die Bundesregierung den Abschuss von "Renegade Aircraft" durch die Luftwaffe und einen dahingehenden Befehl
a) nach geltendem Recht für rechtmäßig,
b) grundgesetzkonform für gesetzlich regelbar, und worauf gründen sich diese Auffassungen jeweils, insbesondere angesichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts?
Zu 1a.:
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2006 (BVerfGE 115, 118 ff.) hat die gesetzliche Grundlage für den Abschuss eines Flugzeuges (§ 14 Abs. 3 LuftSiG) für nichtig erklärt. Das Urteil betrifft die Situation der Abwehr einer polizeilichen Gefahr auf der Grundlage des Artikels 35 Abs. 2 und 3 GG (besonders schwerer Unglücksfall). Die Entscheidung erging zum "in § 14 Abs. 3 LuftSiG vorausgesetzten nichtkriegerischen Luftzwischenfalls (BVerfGE 115, 153 und 157)". Sie bezieht sich ausdrücklich nicht auf "die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind". Wörtlich hat der Senat ausgeführt, dass er nicht zu entscheiden braucht, "ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen dem Grundgesetz über die mit der Notstandsverfassung geschaffenen Schutzmechanismen hinaus eine solidarische ... Einstandspflicht entnommen werden kann" (BVerfGE 115, 159). Zudem hatte der Senat nicht darüber zu entscheiden, "wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wären" (BVerfGE 115, 157). Wie auf ein entführtes Flugzeug zu reagieren ist, kann nur im jeweiligen Einzelfall unter Beachtung aller bekannten Umstände entschieden werden.
Zu 1b.:
Das Bundesverfassungsgericht hält "die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt gegen ein unbemanntes Luftfahrzeug oder ausschließlich gegen Personen, die das Luftfahrzeug als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen auf der Erde einsetzen wollen", mit Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 GG für vereinbar (vergl BVerfGE 115, 160 f.). Allerdings bedarf es dafür im Rahmen des Artikel 35 Abs. 2 und 3 GG einer Verfassungsergänzung, wenn dabei militärische Waffen zum Einsatz kommen sollen.
2. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr einen Befehl des Bundesministers der Verteidigung, "Renegade Aircraft" abzuschießen,
a) zu befolgen hätten, oder
b) aufgrund der o. g. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und angesichts § 11 Abs. 2 des Soldatengesetzes berechtigt oder verpflichtet wären zu verweigern?
Worauf gründet die Bundesregierung je ihre Auffassung?
Der Bundesminister der Verteidigung erteilt nur rechtmäßige Befehle.
3. a) Ließ der Bundesminister der Verteidigung tatsächlich schon vor der Fußballweltmeisterschaft 2006 Soldatinnen und Soldaten der für die Durchführung eines Abschusses in Frage kommenden Flugzeugverbände befragen oder anderswie feststellen, wer von ihnen einen Befehl zum Abschuss von "Renegade Aircraft" befolgen würde?
b) Wann, wie und durch wen genau wurden diese Befragungen bzw. Prüfungen durchgeführt?
c) Bei welchen Stellen, Verbänden, Soldaten?
d) Welchen Wortlaut haben die von Bundesminister Dr. Franz Josef Jung erwähnten diesbezüglichen "Feststellungen", Befehle bzw. Weisungen? e) Aus welchem Grund genau fanden die Befragungen bzw. Untersuchungen statt?
f) Welchem Ziel dienten sie?
g) Auf welcher rechtlichen Grundlage fanden sie statt?
h) Wie viele Piloten genau wurden befragt bzw. geprüft?
i) Wie viele der in Frage kommenden Piloten erklärten sich zum etwaigen Abschuss
aa) grundsätzlich bereit,
bb) unter Bedingungen bereit,
cc) grundsätzlich nicht bereit?
j) Falls dies nicht schriftlich dokumentiert wurde: Was war Grund für derlei Heimlichkeit?
k) Welche disziplinarischen Konsequenzen oder Auswirkungen in der Dienstgestaltung hatte eine ablehnende oder zustimmende Erklärung für die befragten Piloten jeweils?
l) Insbesondere wie viele der Piloten, die sich zur Befolgung eines solchen Abschussbefehls nicht bereit erklärten, wurden seither von ihrem damaligen Dienstposten entfernt?
m) Insbesondere wie viele der Piloten, die sich zur Befolgung eines solchen Abschussbefehls bereit erklärten, erhielten seither (welche?) dienstlichen Vorteile oder Zusagen?
n) Wie und durch wen wurden "verweigernde" Piloten in den Alarmrotten ersetzt?
o) Woher wurden ggf. zur Befolgung eines Abschussbefehls bereite Ersatzpiloten gewonnen?
p) In welcher Weise wurden Piloten bei der Befragung über ihre Abschussbereitschaft und vor einer diesbezüglichen Erklärung rechtlich aufgeklärt, insbesondere über ihre höchstpersönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen Totschlags nach solchem Abschuss?
q) Aktualisierte und wiederholte der Bundesminister der Verteidigung seither (ggf. über Dritte) seine Befragungen?
r) Wenn ja: Wie lauten dazu die Antworten entsprechend vorstehender
Fragen 4a bis 4q?
Zu 3a bis r.:
Der Bundesminister der Verteidigung gab keine Anweisungen, Soldatinnen und Soldaten zu ihrem möglichen Verhalten im Falle eines RENEGADE-Szenarios zu befragen. Derartige Befragungen wurden auch nicht durch andere Vorgesetzte durchgeführt. Dieser Sachverhalt wurde dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages auch in Gesprächen mit Soldatinnen und Soldaten anlässlich eines Besuches im Jagdgeschwader 71 "R" bestätigt.
s) Welche praktischen und rechtlichen Folgen hat es für Piloten, die einen Abschussbefehl entweder befolgen oder verweigern bzw. dies jeweils vorher ankündigen?
Gilt auch hinsichtlich eines solchen Abschussbefehls die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Thomas Kossendey vom 19. September 2007 auf die Frage 44 des Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, dass "rechtmäßige Befehle zu befolgen (sind)" (Bundestagsdrucksache 16/6486)?
Zu 3s.:
Ja.
t) Ist der diesbezügliche "ressortübergreifende Abstimmungsbedarf" inzwischen erfolgreich überwunden worden, aufgrund dessen das Bundesministerium der Verteidigung für die o. g. parlamentarische Antwort Anfang September 2007 eine erforderliche Fristverlängerung erbat (Spiegel online vom 17. September 2007; FAZ.net vom 21. September 2007)?
Wenn ja, mit welchem Ergebnis?
Zu 3t.:
Die Überlegungen der Bundesregierung zu einer möglichen Verfassungsergänzung sind noch nicht abgeschlossen.
4. Betrachtet die Bundesregierung "Renegade Aircraft", die von innerhalb oder außerhalb der deutschen Staatsgrenze in den Luftraum der Bundesrepublik Deutschland eingeflogen sind, als Angriff von außen, dessen Abwehr durch die Streitkräfte als Verteidigung im Sinne von Artikel 87a, Abs. 2 GG zu werten ist
a) bereits nach derzeitiger Rechtslage?
Ja, wenn es sich dabei um einen Angriff eines anderen Staates oder eines de-facto Regimes auf die Bundesrepublik Deutschland handelt oder wenn und soweit internationale terroristische Aggressionen ein Ausmaß erreicht, das das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta auslöst.
b) aufgrund dahingehender zulässiger Grundgesetzänderung?
Die Überlegungen der Bundesregierung zu einer möglichen Verfassungsergänzung sind noch nicht abgeschlossen.
5. Was versteht die Bundesregierung unter einem Quasi-Verteidigungsfall?
Will sie diesen Fall gesetzlich regeln und gegebenenfalls wie?
Der Begriff "Quasi-Verteidigungsfall" ist dem Grundgesetz nicht zu entnehmen. Im Übrigen wird auf die Antwort zur Frage 1 verwiesen.
6. Welche sonstigen konkreten Planungen stellt die Bundesregierung zur Änderung des Grundgesetzes an, die den Abschuss von "Renegade Aircraft" betreffen, insbesondere bezüglich der Artikel 35 und 87a GG?
Die Überlegungen der Bundesregierung zu einer möglichen Verfassungsergänzung sind noch nicht abgeschlossen.
(Deutsche Bundesregierung)
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