Angeblich unlautere Preisgestaltung von Gazprom
Kartellrecht: Europäische Kommission sendet Mitteilung der Beschwerdepunkte an Gazprom
Nach ihrer Untersuchung gelangte die Kommission zu dem vorläufigen Standpunkt, dass Gazprom die EU-Kartellvorschriften verletzt hat
(13.05.15) - Die Europäische Kommission hat Gazprom eine Mitteilung der Beschwerdepunkte übermittelt, der zufolge einige der Geschäftspraktiken des Unternehmens in der mittel- und osteuropäischen Gasversorgung den EU-Binnenmarkt segmentieren und als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung anzusehen sind. Damit verstieße Gazprom gegen die EU-Kartellvorschriften.
Gazprom ist in einer Reihe mittel- und osteuropäischer Länder der marktbeherrschende Erdgaslieferant. Das Unternehmen hält auf diesen Märkten einen Marktanteil von weit über 50 Prozent und in einigen Fällen bis zu 100 Prozent. Im Rahmen dieser kartellrechtlichen Untersuchung vertritt die Kommission den vorläufigen Standpunkt, dass Gazprom in acht mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, der Tschechischen Republik und Ungarn) den Wettbewerb auf den Gasversorgungsmärkten behindert.
Vorläufige Schlussfolgerungen der Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte
Nach ihrer Untersuchung gelangte die Kommission zu dem vorläufigen Standpunkt, dass Gazprom die EU-Kartellvorschriften verletzt hat, indem es eine umfassende Strategie zur Abschottung der mittel- und osteuropäischen Gasmärkte verfolgt, um in mehreren dieser Länder seine unlautere Preispolitik fortführen zu können. Gazprom setzt diese Strategie wie folgt um:
i) Behinderung des grenzübergreifenden Vertriebs von Erdgas;
ii) Berechnung nicht angemessener Preise und
iii) Knüpfung von Gaslieferungen an Zusagen von Großhändlern bezüglich der Erdgastransportinfrastruktur.
1. Gazprom verhindert möglicherweise den grenzübergreifenden Verkauf von Erdgas
Gazprom hat in seine Liefervereinbarungen mit Großhändlern eine Reihe von territorialen Beschränkungen aufgenommen, die die Ausfuhr von Erdgas in acht EU-Mitgliedstaaten (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Tschechische Republik und Ungarn) verhindern. Zu diesen beschränkenden Klauseln zählen:
>> Ausfuhrverbotsklauseln: Bestimmungen, die den Erdgasexport ausdrücklich untersagen;
>> Klauseln zum Bestimmungsort: Bestimmungen, in denen festgeschrieben ist, dass der Kunde (Großhändler oder Industriekunde) das erworbene Erdgas in seinem Herkunftsland verwenden muss oder es lediglich an bestimmte Kunden innerhalb seines Landes weiterverkaufen kann;
>> weitere Maßnahmen, die den grenzübergreifenden Transport von Erdgas verhindern, so z. B. Verpflichtungen für Großhändler, vor Erdgasexporten die Zustimmung von Gazprom einzuholen, oder die Weigerung, unter bestimmten Bedingungen den Ort, an den das Erdgas geliefert werden soll, zu ändern.
Die Kommission vertritt die vorläufige Auffassung, dass Gazprom diese territorialen Beschränkungen nutzt, um einen freien Transport von Erdgas zwischen den und in die acht mittel- und osteuropäischen Länder zu verhindern. Infolgedessen haben diese Mitgliedstaaten keinen Zugang zu importiertem Erdgas zu potenziell wettbewerbsfähigeren Preisen.
Territoriale Beschränkungen wirken sich negativ auf die Erdgaspreise aus, verhindern den grenzübergreifenden Transport von Erdgas und führen zu Marktabschottung. Insbesondere unterbinden sie den Transport von Erdgas dorthin, wo es am meisten benötigt wird und wo die Preise wirtschaftlich am attraktivsten sind.
Die Großhandelspreise für Erdgas in den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten können sich erheblich unterscheiden. Liegen die Erdgaspreise in einem Land höher als in einem anderen, sollte der Großhändler in dem Mitgliedstaat mit den niedrigen Preisen sein überschüssiges Erdgas, das er nicht für den Inlandsverbrauch benötigt, auf einem Markt mit höheren Preisen verkaufen können. Territoriale Beschränkungen verhindern eine solche Preisarbitrage. Infolge dieser Klauseln können Großhändler nicht mit Gazprom konkurrieren, d. h. russisches Gas kann nicht mit russischem Gas konkurrieren. Dies führt zu höheren Preisen und entlang der nationalen Grenzen segmentierten Erdgasmärkten.
Die Kommission hat bereits in früheren Beschlüssen deutlich gemacht, dass die territorialen Beschränkungen und Maßnahmen zur Marktabschottung den Wettbewerb beeinträchtigen könnten:
>> Im Jahr 2004 verabschiedete die Kommission zwei Beschlüsse zu Verträgen von Gaz de France (GDF) mit den italienischen Unternehmen ENI und ENEL, in denen bestätigt wurde, dass territoriale Beschränkungen in der Erdgaswirtschaft den Wettbewerb beschränken. Die beschränkenden Klauseln verboten ENI und ENEL in Frankreich den Verkauf von Erdgas, das GDF für sie beförderte. Die Klauseln verhinderten somit, dass französische Kunden Gas von zwei italienischen Gasversorgern beziehen konnten und beschränkten den Wettbewerb auf dem Markt.
>> Im Jahr 2009 verhängte die Kommission gemäß Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gegen EDF und E.ON eine Geldbuße, da diese sich darauf verständigt hatten, kein über die MEGAL-Pipeline transportiertes Gas auf dem Inlandsmarkt des jeweiligen anderen Unternehmens zu verkaufen.
Bei der Kommission ist ebenfalls ein Kartellverfahren zu territorialen Beschränkungen im Stromsektor in Bulgarien gegen Bulgarian Energy Holding (BEH) anhängig, da das Unternehmen die Freiheit der Käufer bei der Wahl des Wiederverkaufsorts für von BEH erworbenen Strom eingeschränkt hat. Im August 2014 übermittelte die Kommission BEH eine Mitteilung der Beschwerdepunkte.
2. Angeblich unlautere Preisgestaltung von Gazprom
Die Untersuchung der Kommission bezieht sich auf die Preise, die Gazprom-Kunden wie Erdgasgroßhändler und industrielle Kunden für Erdgas zahlen. Diese Großhandelspreise spielen bei der Festlegung der Erdgaspreise, die auf Endkundenebene von Privathaushalten und Unternehmen verlangt werden, eine große Rolle. Sie können sich auch auf die Preise für Industriegüter auswirken, bei denen die Energiekosten ein wichtiger Faktor bei den Produktionskosten sind.
In der Regel koppelt Gazprom den Preis des von ihm verkauften Erdgases an eine Reihe von Erdölerzeugnissen (sogenannte "Ölpreisbindung"). Die Kommission prüft, ob und in welchem Umfang die einzelnen Preisniveaus in einem Land nicht angemessen sind und wie die spezifischen, auf der Ölpreisbindung basierenden Preisformeln von Gazprom zu der unlauteren Preisgestaltung beigetragen haben. Die Kommission ist nicht der Auffassung, dass die Bindung eines Produktpreises an Erdölerzeugnisse oder anderweitige Produkte an sich rechtswidrig ist. Ferner beanstandet sie nicht, dass Gaspreise in verschiedenen Ländern unterschiedlich sind. Die Wettbewerbsbedingungen in den einzelnen Mitgliedstaaten können unterschiedlich sein, wie etwa der Stellenwert von Erdgas als Energiequelle im "Energiemix" eines Landes.
Um beurteilen zu können, ob einzelne Preisniveaus in einem Land nicht angemessen sind, wurden die Preise der verschiedenen Mitgliedstaaten mit einer Reihe verschiedener Benchmarks verglichen, wie etwa den Kosten von Gazprom, den Preisen auf verschiedenen geografischen Märkten oder den Marktpreisen. Aufgrund dieser Analyse kam die Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte zu der vorläufigen Schlussfolgerung, dass die spezifischen Preisformeln – so wie sie in den Gazprom-Verträgen mit seinen Kunden verwendet wurden – zur Unangemessenheit der von Gazprom verlangten Preise beigetragen haben: Die spezifischen Preisformeln von Gazprom, die den Erdgaspreis an die Preise von Erdölprodukten koppeln, haben Gazprom gegenüber seinen Kunden stark bevorteilt.
In der Mitteilung der Beschwerdepunkte gelangte die Kommission zu der vorläufigen Schlussfolgerung, dass Gazprom in fünf mittel- und osteuropäischen Ländern (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen und Polen) unangemessene Preise verlangte.
3. Bedenken in Bezug auf die Erdgastransportinfrastruktur
Die Kommission hegt Bedenken, dass Gazprom seine marktbeherrschende Stellung in Bulgarien und Polen ausgebaut hat, indem das Unternehmen Erdgaslieferungen an bestimmte infrastrukturbezogene Zusagen von Großhändlern knüpfte.
In Bezug auf Bulgarien vertritt die Kommission den vorläufigen Standpunkt, dass Gazprom Gaslieferungen auf Großhandelsebene trotz hoher Kosten und ungewisser wirtschaftlicher Aussichten von der Teilnahme des bulgarischen etablierten Gasversorgers an einem groß angelegten Infrastrukturprojekt von Gazprom ("South Stream"-Pipeline) abhängig machte.
In Bezug auf Polen vertritt die Kommission den vorläufigen Standpunkt, dass Gazprom Gaslieferungen an die Bedingung knüpfte, dass Gazprom die Kontrolle über Investitionsentscheidungen über eine der wichtigsten polnischen Pipelines (Yamal) behielt. Diese Pipeline ist eine der wichtigsten Infrastrukturen, über die Erdgas von anderen Lieferanten als Gazprom auf den polnischen Markt gelangen könnte.
Hintergrundinformationen zum Verfahren bei kartellrechtlichen Untersuchungen
Artikel 102 AEUV verbietet die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung, die den Handel beeinträchtigen und den Wettbewerb verhindern oder einschränken kann. Wie diese Bestimmungen anzuwenden sind, regelt die Kartellrechtsverordnung (Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates), die sowohl von der Kommission als auch von den Wettbewerbsbehörden der EU-Mitgliedstaaten angewendet werden kann.
Die Mitteilung der Beschwerdepunkte ist ein förmlicher Schritt bei Untersuchungen der Kommission im Falle mutmaßlicher Verstöße gegen die EU-Kartellvorschriften. Die Kommission setzt die Parteien schriftlich von den gegen sie vorliegenden Beschwerdepunkten in Kenntnis. Die Unternehmen können dann die Untersuchungsakte der Kommission einsehen, sich schriftlich dazu äußern und eine mündliche Anhörung beantragen, in der sie gegenüber Vertretern der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden zu der Sache Stellung nehmen. Die Kommission erlässt erst dann einen abschließenden Beschluss, wenn die Parteien ihre Verteidigungsrechte wahrgenommen haben.
Für den Abschluss kartellrechtlicher Untersuchungen zu wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen gilt für die Kommission keine zwingende Frist. Die Dauer einer kartellrechtlichen Untersuchung hängt von verschiedenen Faktoren ab, z. B. der Komplexität der Sache, dem Umfang, in dem das betroffene Unternehmen mit der Kommission kooperiert, und der Ausübung der Verteidigungsrechte.
(Europäische Kommission: ra)
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