Jegliche potenzielle Bedrohung aufgekauft
Kartellrecht: Europäische Kommission verhängt Geldbußen gegen Servier und fünf Generikahersteller wegen Behinderung der Markteinführung kostengünstigerer Herz-Kreislauf-Arzneimittel
Von 2005 bis 2007 schloss Servier praktisch jedes Mal einen Vergleich mit dem Unternehmen, das nahe daran war, in den Markt einzutreten
(18.07.14) - Die Europäische Kommission hat Geldbußen in Höhe von insgesamt 427,7 Mio. EUR gegen das französische Pharmaunternehmen Servier und fünf Hersteller von Generika – Niche/Unichem, Matrix (jetzt Teil von Mylan), Teva, Krka und Lupin – verhängt, weil sie eine Reihe von Vereinbarungen geschlossen haben, die dem Schutz von Serviers meistverkauftem Blutdruckmedikament Perindopril vor Wettbewerbsdruck durch Generika in der EU dienen. Durch den Erwerb von Technologie und eine Reihe von Patentstreitbeilegungen mit konkurrierenden Generikaherstellern hat Servier eine Strategie zum Ausschluss von Konkurrenz und zur Verzögerung des Markteintritts billigerer Generika umgesetzt, was zu Lasten der öffentlichen Haushalte und der Patienten geht und gegen die EU-Kartellvorschriften verstößt.
Der für Wettbewerbspolitik zuständige Vizepräsident der Kommission Joaquín Almunia erklärte: "Serviers Strategie bestand darin, jegliche potenzielle Bedrohung aufzukaufen und so sicherzustellen, dass keine Konkurrenz auf den Markt kommt. Ein solches Verhalten ist ganz klar wettbewerbswidrig und missbräuchlich. Wettbewerber dürfen sich nicht auf eine Aufteilung der Märkte oder Markterträge verständigen anstatt zu konkurrieren, selbst wenn es sich bei diesen Vereinbarungen um Patentstreitbeilegungen handelt. Solche Praktiken schaden unmittelbar den Patienten, den nationalen Gesundheitssystemen und den Steuerzahlern. Pharmaunternehmen sollten sich lieber auf Innovation und Wettbewerb konzentrieren, anstatt zu versuchen, zum Schaden der Patienten höhere Erträge generieren."
Perindopril ist ein Star unter den Blutdrucksenkern und war Serviers meistverkauftes Produkt. Servier verfügte wegen des Perindopril-Moleküls über erhebliche Marktmacht, da keine Bluthochdruckmedikamente außer den Perindopril-Generika seine Preise und Verkäufe maßgeblich einschränken konnten. Serviers Patent auf das Perindopril-Molekül ist zum größten Teil im Jahr 2003 ausgelaufen. Konkurrierende Generikahersteller sahen sich zwar weiterhin einer Reihe von sogenannten "sekundären" Patenten für die Verarbeitung und Form gegenüber, die aber dem Produkt, das Servier als seine "Milchkuh" bezeichnete, einen geringeren Schutz boten. Hersteller günstigerer generischer Versionen von Perindopril bereiteten intensiv deren Markteinführung vor.
Um auf dem Markt Fuß zu fassen und die verbleibenden Hindernisse zu überwinden, versuchten Unternehmen Zugang zu patentfreien Produkten zu erhalten oder gegen Serviers Patente vorzugehen, da diese sie ihrer Meinung nach zu Unrecht blockierten. Es gab nur sehr wenige Quellen nicht geschützter Technologie. Im Jahr 2004 erwarb Servier die fortschrittlichste Technologie und erzwang damit den Abbruch einer Reihe von Generika-Projekten, was deren Markteintritt verzögerte. Servier hat anerkannt, dass dieser Erwerb lediglich "der Stärkung des Schutzmechanismus" diente und die Technologie nie genutzt wurde.
Nachdem somit dieser Weg auf den Markt abgeschnitten war, beschlossen Hersteller von Generika, gerichtlich gegen Serviers Patente vorzugehen. Von 2005 bis 2007 schloss Servier jedoch praktisch jedes Mal, wenn ein Generika-Hersteller nahe daran war, in den Markt einzutreten, einen Vergleich mit dem jeweiligen Unternehmen. Dabei handelte es sich nicht um einen normalen Geschäftsvorgang, bei dem zwei Parteien beschließen, einen Patentanspruch außergerichtlich zu regeln, um Zeit und Kosten zu sparen. Hier erklärten sich die Generika-Hersteller im Austausch für einen Anteil von Serviers Markterträgen damit einverstanden, nicht zu konkurrieren. Im Zeitraum von 2005 bis 2007 geschah dies mindestens fünf Mal. Ein Generikahersteller hat eingeräumt, dass er sich "aus Perindopril herauskaufen" ließ. Ein anderer bestand darauf, dass ein Vergleich nur bei Zahlung einer beträchtliche Summe oder für "einen Haufen Geld" möglich sei ("any settlement will have to be for significant sums" – "a pile of cash"). Insgesamt beliefen sich die Zahlungen von Servier an Generikaunternehmen auf zweistellige Millionenbeträge. In einem Fall bot Servier einem Generikaunternehmen eine Lizenz für 7 nationale Märkte an; im Gegenzug erklärte sich das Generikaunternehmen bereit, alle anderen EU-Märkte zu "opfern" und seine Bemühungen um die Einführung seines Perindopril-Produkts dort einzustellen. Servier gewann so die Gewissheit, dass sich die Generikahersteller von den nationalen Märkten fernhalten und für die Laufzeit der Vereinbarung keine rechtlichen Schritte mehr unternehmen würden.
Es ist legitim und wünschenswert, Patente (auch sogenannte Verfahrenspatente) anzumelden und durchzusetzen, Technologien zu übertragen und Rechtsstreitigkeiten beizulegen. Servier missbrauchte diese legitimen Instrumente jedoch, indem es eine konkurrierende Technologie vom Markt fernhielt und eine Reihe von Wettbewerbern, die kostengünstigere Arzneimittel entwickelt hatten, auskaufte, statt sich der Konkurrenz zu stellen. Eine solche Verhaltensweise verstößt gegen EU-Kartellrecht, denn laut Artikel 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung verboten. Jeder Ausgleich zwischen Servier und den konkurrierenden Generikaherstellern stellte auch eine gemäß Artikel 101 AEUV verbotene wettbewerbswidrige Vereinbarung dar.
Die Erfahrung zeigt, dass der Wettbewerb mit Generika zu erheblichen Preissenkungen bei den betreffenden Arzneimitteln führt. Der Markteintritt von Generika mindert die Gewinne des Originalpräparateherstellers drastisch und bringt große Vorteile für die Patienten und die öffentlichen Haushalte. Im Jahr 2007 sanken die Preise von Perindopril-Generika im Vereinigten Königreich um durchschnittlich 90 Prozent im Vergleich zu Serviers vorherigem Preisniveau. Dies geschah, nachdem der einzige verbleibende Herausforderer im Vereinigten Königreich es erreicht hatte, Seviers damals wichtigstes Patent für ungültig erklären zu lassen. In internen Unterlagen äußerte sich Servier jedoch stolz zu seinem "großen Erfolg = 4 Jahre gewonnen" ("great success = 4 years won"). Dabei bezog sich das Unternehmen auf das Auslaufen des Patents auf das Perindopril-Molekül 2003.
Die Geldbußen hat die Kommission auf der Grundlage ihrer Leitlinien zur Festsetzung von Geldbußen aus dem Jahr 2006 festgelegt. Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbußen hat sie die Dauer der Zuwiderhandlung und ihre Schwere berücksichtigt. Die Dauer der Untersuchung wurde als mildernder Umstand gewertet.
Hintergrund
In der Untersuchung der Kommission zum Wettbewerb im Arzneimittelsektor traten strukturelle Fragen und Probleme in der Unternehmenspraxis zutage, die möglicherweise für ungerechtfertigte Verzögerungen bei der Einführung kostengünstigerer Arzneimittel auf dem EU-Markt verantwortlich sein könnten. Die Sektoruntersuchung zeigte außerdem, dass Handlungsbedarf bei der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts besteht.
2013 hat die Kommission im Rahmen von zwei weiteren Untersuchungen Unternehmen Geldbußen auferlegt – in einem Fall ging es um das Antidepressivum Citalopram, in dem anderen um das Schmerzmittel Fentanyl.
Darüber hinaus verfolgt die Kommission die Beilegung von Patentstreitigkeiten, um Patentvergleiche ausfindig zu machen, die aus kartellrechtlicher Sicht potenziell problematisch sein könnten – insbesondere jene, bei denen die Markteinführung eines Generikums durch einen Vermögenstransfer seitens eines Originalpräparateherstellers an einen Generikahersteller eingeschränkt wird. Aus dem letzten Bericht, der im Dezember 2013 veröffentlicht wurde, geht hervor, dass die Zahl der Vergleiche, die Anlass zu wettbewerbsrechtlichen Bedenken geben, weiterhin niedrig ist. Dies zeigt, dass in der Branche eine größere Sensibilisierung für potenziell problematische Praktiken besteht. Da solche Vergleiche eine Verzögerung des Markteintritts kostengünstigerer Generika verursachen können, ist dies eine gute Nachricht für die Verbraucher und Steuerzahler. Außerdem wird in dem Bericht festgestellt, dass die Zahl der Patentvergleiche im Vergleich zum vorangegangenen Überwachungszeitraum insgesamt gestiegen ist. Dies zeigt, dass Unternehmen ihre Streitigkeiten auch unter Einhaltung des EU-Wettbewerbsrechts erfolgreich beilegen können.
Der heutige Beschluss folgt auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte, die den Beteiligten im Juli 2012 übermittelt wurde, und die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens im Juli 2009.
Schadensersatzklagen
Alle Personen und Unternehmen, die von dem beschriebenen wettbewerbswidrigen Verhalten betroffen sind, können vor den Gerichten der Mitgliedstaaten auf Schadensersatz klagen. Der Kommission ist bekannt, dass im Vereinigten Königreich Schadensersatzklagen in Bezug auf Serviers Praktiken auf dem Markt für Perindopril anhängig sind.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates sind Kommissionsbeschlüsse ein verbindlicher Beleg dafür, dass das Verhalten stattgefunden hat und rechtswidrig war. Schadensersatz kann auch dann gewährt werden, wenn die Kommission gegen die betreffenden Unternehmen Geldbußen verhängt hat. Die von der Kommission verhängte Geldbuße wird dabei nicht mindernd angerechnet.
Im Juni 2014 hat das Europäische Parlament einen Vorschlag für eine Richtlinie gebilligt, mit der Opfern wettbewerbswidriger Praktiken die Erlangung von Schadensersatz für solche Verstöße erleichtert werden soll. Die Richtlinie beruht auf einem Vorschlag der Kommission vom Juni 2013. Der Vorschlag liegt nun dem EU-Ministerrat zur endgültigen Annahme vor.
Den Text des Vorschlags und weitere Informationen zu Schadenersatzklagen sowie einen praktischen Leitfaden zur Quantifizierung des Schadens aufgrund von Verstößen gegen das Kartellrecht, die öffentliche Konsultation und eine Bürgerinfo finden Sie unter: http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/actionsdamages/documents.html
(Europäische Kommission: ra)
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