Zweifel am Nutzen von Tamiflu im Pandemiefall
Transparency unterstützt die Forderung der Cochrane Collaboration nach Offenlegung der Tamiflu-Studiendaten
Epidemiologe Ulrich Keil: "Der Fall Tamiflu würde, wenn es kein Einlenken des Herstellers Roche gibt, den Ausverkauf der Prinzipien des integeren wissenschaftlichen Verhaltens zugunsten der Verkaufsinteressen bedeuten"
(14.02.12) - Die Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland unterstützt die Forderung der Cochrance Collaboration nach einer Offenlegung der bisher zurückgehaltenden Studiendaten zu Tamiflu vom Hersteller Roche, damit sie diese unabhängig bewertet werden können. Transparency hatte im Zusammenhang mit dem Fehlalarm der sogenannten Schweinegrippe-Pandemie im Jahr 2009 die intransparenten und von Interessenkonflikten geprägten Vorgänge und Fehlentscheidungen bei den internationalen und nationalen Expertengremien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der ständigen Impfkommission (STIKO) und dem Robert-Koch-Institut (RKI) im September 2009 kritisiert. Bis heute hätten laut Transparency die WHO und die verantwortlichen Behörden eine Aufarbeitung dieser Interessenkonflikte versäumt.
Nun lassen aktuelle Ergebnisse der Cochrane Collaboration - so sagt Transparency - auch am bisher von den zuständigen Behörden und Expertengremien attestierten Nutzen von Tamiflu im Pandemiefall schwere Zweifel aufkommen. Aufgrund eines Informationsfreiheitsantrages hätte eine Forschergruppe um Tom Jefferson 25.453 Seiten klinische Studienprotokolle und 2.700 Seiten mit Kommentaren der europäischen Zulassungsbehörde EMA erhalten. Von den jeweils fünf Module umfassenden klinischen Studienprotokollen wären aber nur jeweils Modul 1 und 2 (ca. 60 Prozent des tatsächlichen Umfangs) der Zulassungsbehörde EMA ausgehändigt worden. Auch auf mehrfaches Drängen der Cochrane-Forschergruppe auf vollständige Dokumenteneinsicht wäre ihnen diese angeblich vom Hersteller Roche verweigert worden.
Die Auswertungen der verfügbaren Zulassungsdaten stünden laut Cochrane Collaboration im Widerspruch zu den veröffentlichten Studien und amtlichen Informationen, die Tamiflu eine hohe Wirksamkeit bei der Vorbeugung von schweren Komplikationen und der Verbreitung der Grippeinfektion bescheinigen. Jefferson und Kollegen hätten lediglich Beweise für eine Verkürzung der grippalen Symptome um 21 Stunden gefunden, jedoch keine Beweise für die Verhinderung von schweren Komplikationen oder Ansteckung. Zudem hätten sie Diskrepanzen zwischen dem ihnen vorliegenden Datenmaterial und den hierzu in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichten Artikeln aufgedeckt.
Wolfgang Wodarg, Sprecher der AG Gesundheit, sagte: "Zur unabhängigen und nicht verzerrten Beurteilung der Wirksamkeit eines Medikamentes für die Zulassung ist die vollständige Offenlegung aller Studienunterlagen notwendig. Tamiflu ist ein von nationalen Institutionen und Behörden zum vorsorglichen Schutz gegen befürchtete Pandemien zu hohen Kosten eingekauftes, in großen Mengen gelagertes und aufgrund der kurzen Haltbarkeit ständig neu zu beschaffendes Medikament. Wirksamkeit und Unschädlichkeit müssen durch wissenschaftliche Evidenz hinreichend belegt werden, sonst ist eine Zulassung, erst recht eine Vorratsanschaffung auf nationaler Ebene, nicht zu rechtfertigen. Durch die Geheimhaltung wird der fatale Eindruck, dass wissenschaftliche Forschung und Zulassung nicht aufgrund der Evidenz, sondern von wirtschaftlichen Interessen gesteuert werden, bestärkt. Roche muss diesem Eindruck sofort und entschlossen entgegentreten."
Transparency ruft die europäische Behörde EMA, die Tamiflu im Jahr 2002 für den europäischen Arzneimittelmarkt zuließ, alle zuständigen nationalen Behörden, wissenschaftlichen Fachgesellschaften und zuständigen Gremien zur Unterstützung der Forderung nach Offenlegung aller Studiendaten durch den Hersteller auf. Die 2012 anstehende Verlängerung der Zulassung für Tamiflu sollte laut Transparency nur erfolgen, wenn alle Daten auf dem Tisch liegen. Ebenso sollte der vorsorgliche Ankauf und die weitere Lagerung von Tamiflu durch Regierungen oder Behörden bis zur Offenlegung aller Daten und Neubewertung der Wirksamkeit eingestellt werden.
Der Epidemiologe Ulrich Keil unterstreicht die Bedeutung der Auseinandersetzung um die Offenlegung der Studiendaten: "Der Fall Tamiflu würde, wenn es kein Einlenken des Herstellers Roche gibt, den Ausverkauf der Prinzipien des integeren wissenschaftlichen Verhaltens zugunsten der Verkaufsinteressen bedeuten. Ein immenser Vertrauensverlust in Wissenschaft, Pharmaindustrie, aber auch Gesundheitsbehörden und -Institutionen wäre die Folge. Hersteller und Behörden im Gesundheitsbereich müssen sich ihrer Verantwortung stellen." (Transparency: ra)
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